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Über den Roman

(Ein Essay von Bodo Gaßmann: Versuch einer Apologie des Romans
am Beispiel von Arno Kaisers „Fieber“ und anderer Romane)

Die Erzählperspektive am Beispiel der Kriegsromane

Um die adäquate Form zu finden, muss die Form des Romans reflektiert werden. Nicht nur aus aktuellem Anlass werde ich dies am Beispiel einiger Kriegsromane über den Ersten Weltkrieg tun. Diese Romane haben nicht nur das Hässliche der kapitalistischen Gesellschaft, ihren Kot und ihr Blut, zum Gegenstand, sie stellen direkt oder indirekt den Untergang der bürgerlichen Kultur dar, ja nach Karl Kraus sogar den Untergang der Menschheit, die in diesem Krieg ihr Bewusstsein und Selbstbewusstsein verlor, also das, was sie zu Menschen macht.
Die Form des Romans hängt vor allem von der Erzählperspektive ab. Da ist zunächst das auktoriale Erzählen. Der allwissende Erzähler konstruiert im 18. Jahrhundert eine fiktive Welt, in der alles seinen Sinn hat. Er kennt alle Figuren und ihre Motive, durchschaut wie ein Gott die Erzählwelt, in der er souverän seine Figuren platziert. Schaut man aber genauer hin, dann stellt sich die Souveränität des allwissenden Erzählers als Schein heraus. Der allwissende Erzähler setzt eine Erkenntnisweise voraus, die vorgibt, das Seiende so zu erkennen, wie es uns wirklich erscheint, sie setzt also die traditionelle Metaphysik (wenn auch in popularisierter Form) voraus. Mit der Kritik an dieser Metaphysik unter anderen durch Kants „Kritik der reinen Vernunft“ ist die Erkenntnis der Wirklichkeit nur zu haben durch die Reflexion unseres Erkenntnisapparates. In der Literaturgeschichte wird daraus die Subjektivierung der Erzählperspektive, auch sozial dadurch motiviert, dass die Welt für viele immer komplexer und unverständlicher wurde, die Versprechen der bürgerlichen Philosophie sich oft als falsch erwiesen (vgl. meinen Aufsatz über Gerechtigkeit). Nichtsdestotrotz hat Kant mit seiner Begründung der transzendentalen Erkenntnis den Anspruch auf Objektivität der Erkenntnis nicht aufgegeben, sondern nur auf eine reflektiertere Stufe gestellt (vgl. Gaßmann: Grundlage, S. 296). Der Rückzug der Erzählperspektive auf ein wahrnehmendes, erkennendes und fühlendes Subjekt hat deshalb auch etwas Ideologisches, es verfällt der Skepsis wie die vorherrschende bürgerliche (ideologische) Philosophie, zumal die Erkenntnis des Wesens der bürgerlichen Ökonomie durch Marx einherging mit dieser falschen Subjektivierung.
Je mehr die Negativität der neu entstehenden bürgerlichen Verhältnisse sich offenbart, um so mehr wird der allwissende Erzähler in der Geschichte der Literatur abgelöst durch die subjektive Perspektive des personalen Erzählens, in dem im Erzählbericht immerhin noch das Objektive sichtbar bleibt. Modell dafür ist „Madame Bovary“ von Flaubert. Die Verunsicherung durch die gesellschaftlichen Verhältnisse führt letztlich zur Reduktion der Erzählperspektive auf das erlebende Ich (und sei es auch durch personales Erzählen wie in Büchners „Lenz“). Die Welt ist für viele bürgerliche Schriftsteller nur noch als Reflex im Spiegel eines atomisierten Einzelnen erkennbar. Das ist die Erzählperspektive der hier kurz untersuchten Kriegsromane. Ihre Untersuchung bietet sich an, weil auch „Fieber“ aus der Ich-Perspektive erzählt wird.
Da ist zunächst „In Stahlgewittern“ von Ernst Jünger (1920). Dieses Buch ist fast völlig auf die Erlebnissphäre reduziert. In einer endlosen Abfolge von Gemetzeln und Erlebnissen in der Etappe werden die Jahre des Krieges geschildert – aber immer nur aus der unmittelbaren Erlebnisperspektive Jüngers, der sein Werk als Kriegstagebuch ausgibt. Man erfährt, wie ein Schrapnell einen Teil des Schädels bei einem Soldaten wegrasiert und sein Gehirn herausquillt oder eine Granate in einen Mannschaftsunterstand einschlägt und fünfzehn Mann auf einmal tötet, nur Jünger nicht, der vorher den Bunker verlassen hat. Der Alkoholkonsum des Autors wird bis ins einzelne beschrieben, seine Anreicherung der jämmerlichen Verpflegung durch die Beute bei der Eroberung eines englischen Schützenpanzers, der doch wieder am nächsten Tag verloren geht. Der Krieg erscheint bei Jünger als Naturereignis, sein Stil ist einfach, knapp und völlig nüchtern. Seine Haltung erinnert an landsknechthafte Gleichgültigkeit. Dennoch ist sie nicht frei von Eitelkeit und drückt Stolz aus ob seiner Tapferkeit bis hin zu dem übermächtigen Wunsch zu töten. Reflexionen aber, warum dieser Krieg ist, warum das Töten vonstatten geht, finden sich nicht. Wenn überhaupt reflektiert wird, dann so: „Hier zeichnete ich auch die dreitausend Mark, die ich damals besaß, als Kriegsanleihe, um sie niemals wiederzusehen.“ (S. 111) Oder über die letzte Großoffensive der Deutschen schreibt er: „Der Endkampf, der letzte Anlauf schien gekommen. Hier wurde das Schicksal von Völkern zum Austrag gebracht, es ging um die Zukunft der Welt. Ich empfand die Bedeutung der Stunde, und ich glaube, daß jeder damals das Persönliche sich auflösen fühlte und daß die Furcht ihn verließ.“ (S. 237)
Seine Erfahrungen, die er in den vordersten Linien machte, waren bereits veraltet, als die Tanks erschienen. Die wenigen reflektierenden Sätze sind meist eine unkritische Kriegsverherrlichung. „…ein unbeteiligter Zuschauer hätte vielleicht glauben können, daß wir von einem Übermaß an Glück ergriffen seien.“ (S. 238) Lediglich am Ende des Buches wird deutlich, warum die Deutschen den Krieg verlieren mussten. „Mit jedem Angriff trug der Feind eine mächtigere Ausrüstung vor; seine Stöße wurden schneller und wuchtiger. Jeder wußte, daß wir nicht mehr siegen konnten. Aber wir würden standhalten.“ (S. 284) Das Buch hat für einige einen gewissen Unterhaltungswert, denn wenn sie vom Tod lesen, dann fasziniert das, solange man nicht selbst im Schlamassel liegt; aber einen Erkenntniswert auf Grund der beschränkten Perspektive hat das Buch nicht.
Etwas anders verhält es sich mit dem Roman von Erich Maria Remarque „Im Westen nichts Neues“ (1929). Ebenfalls aus der Perspektive eines Ich-Erzählers wird die Betroffenheit sichtbar, die das Morden im Ersten Weltkrieg auf den Erzähler von Anfang an hat. Hier wird tatsächlich eine Idee dargestellt, nämlich die, dass Krieg nicht mehr sein soll. Einige junge Gymnasiasten werden 1914 eingezogen und sterben in den nächsten Jahren alle in den Materialschlachten und dem Giftgaskrieg. Symbolisiert wird dies an ein Paar Stiefeln, die wie das Schicksal von einem an den anderen fallen, bis niemand mehr da ist, sie zu erben. Doch auch dieser Roman, der am ehesten eine Bebilderung einer Idee im Sinne Hegels ist, kann seine pazifistische Intention nicht erzählerisch einholen. Liest man Jünger oder Köppen vor Remarque, dann fällt die Betroffenheitsperspektive penetrant auf: Hier gilt am ehesten der Satz von Adorno, „als reichte das Individuum mit seinen Regungen und Gefühlen ans Verhängnis noch heran, als vermöchte unmittelbar das Innere des Einzelnen noch etwas“ (Adorno: Erzähler, S. 63). In den Materialschlachten ist der Einzelne nur ein Statist, es trifft den Mutigen wie den Feigen. Wenn das Trommelfeuer die Linien sturmreif schießt, hat der Einzelne keine Bedeutung mehr. Im Widerspruch zu dieser Einsicht wird bei Remarque gerade an Einzelschicksalen der Irrsinn des modernen Kriegs demonstriert. Auch findet kaum eine Reflexion über die abstrakte Idee des Pazifismus hinaus statt, bestenfalls im abstrakten Sinn über anthropologische Deutung des Menschen, aber ohne Gesellschaftsanalyse, ohne ökonomisches Verständnis, ohne wahre Reflexion.  Warum dieser Krieg? Diese Frage wird nicht beantwortet. Die Wirklichkeit ist in die Funktionale gerutscht, wie Brecht erkannte, und kann nicht mehr allein an Einzelschicksalen und ihrem unmittelbaren Erleben geschildert werden.
Der Leser bekommt einen Widerwillen gegen den Krieg - insofern erfüllt das Buch seinen pazifistischen Zweck, aber es ist  abgeschnitten von der analytischen Erkenntnis des Krieges, die damals nicht nur auf einige Intelligenzler beschränkt war. Der gebildete Arbeiter, der Marx und Liebknecht rezipiert hatte, wusste mehr über den Krieg als der Protagonist bei Remarque. Während in der Arbeitswelt die Lohnabhängigen zum bloßen Mittel der Profitproduktion geworden sind, im Krieg sogar zum bloßen Menschenmaterial, deren Leben man nach strategischen und taktischen Belieben opfern kann, tendiert die bürgerliche Kultur zum Kult des Seelischen, des Gemüts, der Gefühle, Wünsche und Hoffnungen. Der Teil der Seele dagegen, der den Geist beinhaltet, wird ausgeschieden, bestenfalls nur als technische Vernunft zur Bedienung des Kriegsgeräts angesprochen, die Vertreter des Geistes mutieren zu „Intelligenzbestien“, als Kritiker des Krieges zu „Vaterlandsverrätern“. Der „Seelenbegriff tritt in einen immer schärferen Gegensatz zum Geistbegriff“ (Marcuse: Kultur, S. 75). Diese Tendenz der bürgerlichen Kultur exekutiert Remarque auch in seinem Kriegsroman. Was sagen Depressionen und Todesahnungen, der Widerwille gegenüber der Heimat, die Detaildarstellung im Lazarett usw. über den Krieg und seine Ursachen aus? Wie brutal Kriege sind, kann man schon in Homers „Illias“ nachlesen.
In dieser Reduktion auf die subjektive Perspektive, die vor allem von einfachen Personen  repräsentiert wird, drückt sich auch eine Manier aus. War früher die Perspektive von Personen der oberen Klassen vorherrschend, so hat der Naturalismus zu recht eine Umkehr bewirkt. Inzwischen aber ist die simulierte Perspektive von unten zur Mode geworden. Auch der Verdacht drängt sich auf, die Tiefstapelung passt sich den Wünschen der Menge des Lesepublikums an, steigert also die Verkäuflichkeit, wenn keine intellektuelle Anstrengung erwartet wird, wenn die erzählenden Personen keine fordern können. Man vergleiche nur einmal Texte von Heinrich Heine mit dieser simulierten Unterschichtperspektive, die alles Intellektuelle meidet, Bildung bewusst ausblendet und sich in der unbegriffenen Gegenständlichkeit verliert.
Die übliche Reduktion auf die Erlebnisperspektive konnte nicht verhindern, dass die lesenden Arbeiter zehn Jahre später dennoch wieder in den Krieg zogen.
Die Reduktion auf das erlebende Ich wird in der Germanistik, als Bodensatz des vorherrschenden skeptischen Mainstreams, gerechtfertigt, so wenn Silvio Vietta, sich auf Gadamer beziehend, über die Interpretation des subjektiven Erzählers schreibt: „Insofern sind auch unsere Interpretationsangebote im Rahmen dieser Darstellung immer nur Deutungen, die keine absolute Gültigkeit beanspruchen können. Was wir sagen und denken, soll durch die Lektüre der Texte gut begründet sein, aber absolute Geltung kann es nicht beanspruchen.“ (Roman der Moderne, S. 32) Nun ist die Darstellung von Empirischem niemals absolut, aber Vietta meint in dem obigen Zitat nicht nur den Inhalt, sondern auch die Maßstäbe und den wissenschaftlichen Hintergrund. Damit wird Literaturwissenschaft zum intellektuellen Glasperlenspiel, unverbindlich und beliebig. Vietta nimmt deshalb im nächsten Satz seinen Skeptizismus auch wieder ein Stück zurück. „Das aber soll uns nicht entmutigen, nach Verbindlichkeit der Textanalyse zu suchen.“ (Ebd.)

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